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Vom Leben in der Algokratie

Dr. Thorsten Klein, 42, ist ehemaliger Regierungssprecher im Kabinett der damaligen Ministerpräsidentin des Saarlandes, Bundesministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Der gelernte Journalist und heutige Kommunikationswissenschaftler hatte sich die Frage gestellt, warum sich sein Beruf in seiner siebenjährigen Amtszeit so grundlegend verändert hatte. Hierzu hat er 16 Experten interviewt: den Außenminister der Bundesrepublik, Heiko Maas, Bundesverfassungsrichter, Ministerpräsident a.D. Peter Müller, Journalisten wie Michael Bröcker, Chefredakteur von The Pioneer, Wissenschaftler wie Prof. Dr. Wolfgang Wahlster als Gründer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz sowie den ehemaligen Regierungssprecher Georg Streiter. Das Buch zur „Algokratie – wie Algorithmen die Demokratie gefährden“ ist im LIT-Verlag erschienen.

„Wir leben am Beginn einer neuen Epoche. In Windeseile erhalten wir Nachrichten vom Flugzeugabsturz in Frankreich, von der politischen Revolte in Afghanistan oder der Entdeckung des jüngsten Fußball-Talents in Brasilien. Die Kanzlerin hat das Internet im Jahr 2013 als „Neuland“ bezeichnet – und noch immer Recht“, sagt Thorsten Klein. „Die Digitalisierung hat uns in eine Welt der Echtzeitdiskussion geführt. Sie ist anstrengend, kompliziert und alternativlos. Sie treibt die Gesellschaft vor sich her. Sie versetzt das politische System in einen sofortigen Sofortismus, um es mit Jean-Claude Juncker zu sagen. Von jedem Politiker wird zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort zu jedem Thema ein Statement erwartet.“

Klein beschreibt in seinem Buch, inwiefern Algorithmen auf die Demokratie wirken, wie sich dadurch die Kommunikation einer Regierung verändert, welche Auswirkungen sich dadurch auf die Medienwelt und demzufolge auch auf die Mediengesellschaft ergeben. „Früher haben uns Journalisten eine Einordnung dieser Welt gegeben“, sagt Klein, „diese Orientierung wiederum hat in der Nachrichtenwert-Theorie eine wissenschaftlich fundierte Grundlage. Damit gewinnt die Information an Qualität. Im Netz steht die Qualität der Information erst einmal im Hintergrund. Es geht zuallererst um Emotionen. Heutzutage gilt ein Post oder eine Meinung schon als Information. Viele glauben, einen Text verstanden zu haben, wenn sie die Überschrift gelesen haben. Die Vermischung von Meinung und Nachrichtenwert nimmt zu und ist eine Bedrohung der Demokratie.“

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Er sieht die grundgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken nicht garantiert. Dort nähmen privatwirtschaftliche Unternehmen wie Facebook oder Google Einschränkungen vor. Deshalb fragt er: „Steht der wirtschaftliche Erfolg über dem Grundgesetz der Bundesrepublik? Dabei kann die Technisierung nicht nur Gift, sondern auch das Gegengift sein.“

Klein sagt: „Demokratie lebt vom Austausch unterschiedlicher Meinungen, also vom Diskurs. Für klassische Medien gibt es hierfür Standards, im Netz ist das nicht so. Wenn Politiker nur noch auf Themen im Netz reagieren, riskieren sie ein gefährliches Meinungskartell, das weder durch die Wahrheit legitimiert noch in irgendeiner Weise repräsentativ ist. Politik ist heute mehr denn je gefordert, nicht nur zu informieren, sondern zu erklären.“

„Gleichzeitig greift der Mechanismus der Algokratie, nämlich wenn Algorithmen die Nachrichten auswählen, die dem Nutzer angezeigt werden“, sagt Klein. „Sie wirken damit direkt auf Grundzüge des demokratischen Systems: auf den freien Zugang zu Informationen, auf die Meinungsbildung, auf die Meinungsvielfalt. Sie befeuern zusätzlich die Entstehung von Filterblasen. Dies gilt für alle Beteiligten im System. Während an der AfD interessierte Menschen nur noch Informationen aus AfD nahen Kreisen zugespielt bekommen, driften Führungskräfte in eigene Blasen ab und suchen Bestätigung. Hierfür werden Ja-Sager geboren. Es hilft der Blick von außen. Denn das Bild, in dem du stehst, kannst du nicht selbst betrachten.“

„Algorithmen sind vom Menschen gemacht, Algorithmen werden vom Menschen rezipiert. Die Herausforderung für Politik, aber auch Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Zusammenführung der Welten von analog und digital“, sagt Klein. „Die Demokratie muss das Netz ertragen; das Netz muss aber auch die Demokratie aushalten. Verantwortlich für den Umgang damit ist jeder Einzelne.“

Quelle: Dr. Thorsten Klein

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