Steffi Faigle: Kalorien können mich mal

Unsere Politik macht dick – Essen als Ersatzdroge in einem zu lauten Alltag

Eine Kolumne von Steffi Faigle

Gesundheit ist eines der Lieblingswörter der Politik. Kaum eine Rede, in der sie nicht beschworen wird. Gesunde Ernährung, gesunde Lebensweise, gesunde Entscheidungen. Es wird gepredigt, gemahnt, verordnet. Doch wer genauer hinschaut, erkennt ein zentrales Paradox: Während Gesundheit moralisch eingefordert wird, werden genau jene Strukturen gestützt, die Menschen krank machen.

Wer scheitert, hat nicht genug Willen

Über Essen reden wir fast ausschließlich normativ. Zucker ist böse, Fett verdächtig, Kalorien sind eine Frage des Charakters. Es gibt Ampeln, Warnhinweise, Kampagnen und bald vielleicht noch mehr Verbote. Was es nicht gibt: eine ernsthafte gesellschaftliche Debatte darüber, wie Hunger und Sättigung überhaupt entstehen, wie Körper Signale senden – und wie man wieder lernt, diese wahrzunehmen. Statt Menschen zu befähigen, sich in jeder Beziehung, nicht nur beim Essen, gesund zu verhalten, werden ihnen Pflichten auferlegt, wie sie sich wohlgefällig zu verhalten haben. Ihnen wird eine Verantwortung zugeschoben, der sie in weiten Teilen gar nicht gerecht werden können. Wer scheitert, hat offenbar nicht genug Willen. Ein beliebtes Spiel der Politik. Der Einzelne ist selbst schuld.

Schlechtes Verhalten wird alimentiert

Gleichzeitig subventionieren wir systematisch das Gegenteil dessen, was wir predigen. Billige, hochverarbeitete Lebensmittel sind politisch gewollt. Sie sichern soziale Ruhe, niedrige Preise und ein Gefühl von Versorgung. Frische, gesunde Ernährung hingegen kostet Zeit, Geld und mentale Energie – Ressourcen, die im Alltag vieler Menschen fehlen. Das Ergebnis ist ein politischer Widerspruch: Gesundheit wird gefordert, Ungesundes gefördert, schlechtes Verhalten alimentiert, und die Folgen werden individualisiert.

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Mehr Stress trotzt weniger Arbeit

Auch beim Thema Arbeit leben wir in einer kollektiven Selbsttäuschung. Objektiv arbeiten wir heute weniger als frühere Generationen. Die Arbeitszeiten sind gesunken, viele Tätigkeiten körperlich leichter geworden. Und doch ist der Stresslevel historisch hoch, was auch aktuelle Studien belegen. Nicht wegen der gearbeiteten Stunden, sondern wegen der Verdichtung der Arbeit und des Drucks. Permanente Erreichbarkeit, Unsicherheit, Beschleunigung, Vergleichbarkeit. Wer nie wirklich abschaltet, arbeitet auch dann, wenn er offiziell frei hat. Das ist keine Beschwerde über die Arbeitsbedingungen. Es ist einfach eine Beschreibung der modernen, digitalen Arbeitswelt.

Lärm erschöpft

Wir leben in einem Zeitalter des Lärms. Politisch, medial, sozial. Dauerkrisen, Push-Nachrichten, Empörungsökonomie, Selbstoptimierungsdruck. Alles ist laut, alles konkurriert um Aufmerksamkeit, alles verlangt Reaktion. Dieser Lärm erschöpft nicht nur – er macht taub. Wir hören einander immer schlechter zu. Und vor allem hören wir uns selbst nicht mehr. Am wenigsten aber hören wir auf unseren Körper.

Ersatzdroge Essen

Der Körper spricht leise. Hunger meldet sich nicht mit Alarm, Sättigung nicht mit einer Schlagzeile. Wer dauerhaft unter Strom steht, überhört diese Signale. Essen wird dann nicht Antwort auf ein körperliches Bedürfnis, sondern auf einen emotionalen Zustand: Stress, Überforderung, Leere, Frust. Nahrung wird zur Ersatzdroge. Schnell verfügbar, sozial akzeptiert, jederzeit erlaubt. Aber: Wo Hunger nicht das Problem ist, kann Essen nicht die Lösung sein. Das meiste von dem, was wir zu uns nehmen, stillt keinen Hunger, sondern ein Bedürfnis nach Ruhe und einem Moment, der uns gehört.

Kein individuelles Versagen

Dieser „Drogenkonsum“ ist kein individuelles Versagen. Er ist strukturell. In einer Gesellschaft, die Druck erzeugt, Pausen erschwert und Lärm normalisiert, braucht es Ventile. Essen erfüllt diese Funktion perfekt. Es beruhigt, tröstet, belohnt, betäubt. Und genau deshalb ist es politisch so bequem. Niemand muss demonstrieren, wenn die Regale voll sind. Niemand rebelliert mit vollem Mund. Wer isst, macht objektiv nichts falsch. Und doch schadet er sich damit bisweilen.

Krankmachendes Umfeld

Gesundheitspolitik blendet diesen Zusammenhang konsequent aus. Sie misst, warnt, sanktioniert – aber sie verändert die Bedingungen nicht. Weniger Zeit, mehr Sorgen, höhere Kosten, steigende Anforderungen. Der Körper reagiert darauf logisch: Er kompensiert, speichert, schützt. Nicht aus Schwäche, sondern aus Anpassung an ein krankmachendes Umfeld.

Dick wird man nicht, weil man keinen Willen hat. Dick wird man, wenn man keine Chance mehr hat zuzuhören. Wenn der politische, soziale und mediale Lärm so laut ist, dass das eigene Bauchgefühl untergeht. Wenn Essen zur einzigen legalen, verfügbaren Form der Selbstregulation wird.

Moralische Beruhigung

Solange Politik Gesundheit predigt, aber Stress produziert und Ersatzdrogen stillschweigend fördert, wird sie das Problem nicht lösen. Wer wirklich gesündere Menschen will, muss Bedingungen schaffen, unter denen man wieder hören kann: den eigenen Körper, das eigene Tempo, die eigenen Grenzen. Alles andere ist moralische Beruhigung – und Teil eines Systems, das Krankheit verwaltet, statt Gesundheit zu ermöglichen.

Autorenprofil:

Steffi Faigle ist MiNa-Kolumnistin und blickt auf eine 30-jährige Diätgeschichte zurück. Die gebürtige Schwäbin und zertifizierte Ernährungsberaterin erkannte im Laufe ihrer eigenen schier endlosen Abnehmreise, dass Essen nicht die Wurzel ihres Gewichtsproblems ist. Sie beendete ihre Leidensgeschichte mit einer ganz neuen Herangehensweise. Heute ist Steffi Faigle erfolgreich als Autorin, Coach, Podcasterin und Speakerin tätig und begleitet mit ihren Coaching-Programmen tausende Frauen dabei, aus dem permanenten Diäten- und Jo-Jo-Wahnsinn auszubrechen. Sie ermöglicht ihren Klientinnen, ohne Verzicht schlank zu werden und dauerhaft schlank zu bleiben. Der Diätindustrie mit ihren falschen Versprechen und unlauteren Methoden sagt sie mutig den Kampf an. Ihre Mission: „Kalorien können mich mal“.

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